Im Rahmen der Feierlichkeiten rund um das 60-jährige Bestehen des Elysée-Vertrags luden die Europäischen Studien am 25.1.2023 zu einer erneuten Ausgabe der Paderborner Europavorlesungen ein. Diesmal zu Gast: der Generalkonsul Frankreichs und Leiter des Institut français in Köln und Düsseldorf Dr. Etienne Sûr. Bei dem Publikum, das passenderweise aus deutschen und französischen Studierenden, Lehrenden und interessierten Paderborner Bürgern bestand, blieb neben den Worten zur Erfolgsgeschichte des deutsch-französischen Motors vor allem ein Appell in Erinnerung: eben diesen am Laufen zu halten.
“Wie könnte ich meinem Kind begreiflich machen, dass wir mal Feinde waren?”, fragt Dr. Etienne Sûr zu Beginn seines Vortrages zu den deutsch-französischen Beziehungen 60 Jahre nach der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages. Was uns heute schier unvorstellbar erscheint, war 1963 noch in naher Erinnerung. Als der französische Präsident Charles de Gaulle gemeinsam mit seinem deutschen Amtskollegen Bundeskanzler Konrad Adenauer 1963 den Vertrag unterschrieb, der aus Feinden Freunde machen sollte, blickten beide Nationen auf bewegte Kapitel konfliktreicher Geschichte zurück. Es sei wichtig, genau diesen Teil nicht zu vergessen, so Sûr. So erinnert er daran, dass sich 2023 nicht nur der Elysée-Vertrag jährt, sondern auch 100 Jahre französische Besetzung des Ruhrgebietes. “Wir haben eine gemeinsame Geschichte mit vielen Seiten.” (…) “Um in die Zukunft schauen zu können, müssen wir alle Seiten kennen.”
Der Motor Europas
Heute jedoch könnten wir feiern, denn aus dem Elysée-Vertrag sei eine “sehr fruchtbare Freundschaft” entstanden, die in beiden Ländern aktiv gelebt würde, meint Sûr. Der Grundstein, der 1963 gelegt wurde, lieferte die politischen Grundlagen, die es ermöglichten, auf allen Ebenen deutsch-französische Kooperation zu leben. So verpflichtet der Vertrag zu einem verbindlichen und vor allem regelmäßigen Austausch zwischen den Regierungen beider Länder, beispielsweise in Form des Deutsch-Französischen Ministerrates, Sicherheitsrates, Finanz-und Wirtschaftsrates und Kulturrates. Die Idee des Vertrages sei es gewesen, einen deutsch-französischen Reflex zu kreieren, der so nicht nur den Frieden in Europa gewährleisten würde, sondern auch die Einigung Europas voranbringen könnte. Schaue man 2023 zurück auf die letzten Jahrzehnte, ließe sich zweifelsohne erkennen, dass der häufig zitierte “Motor Europas” ganze Arbeit geleistet habe. Oft war es die deutsch-französische Initiative, die nach dem 2. Weltkrieg und besonders nach 1963 wirtschaftliche Bündnisse wie die EGKS und die EWG entstehen ließ. Diese trieben die Integration weiterer europäischer Staaten voran und mündeten schließlich 1993 mit den Verträgen von Maastricht und 2009 mit dem Vertrag von Lissabon in der EU.
Ziemlich beste Freunde?
Neben der Zusammenarbeit auf institutioneller Ebene hätten Konrad Adenauer und Charles de Gaulle 1963 allerdings auch in einem “visionären Impuls von oben nach unten” das zivilgesellschaftliche Engagement mitbedacht. Beiden wäre klar gewesen, dass aus Feinden nur Freunde werden können, wenn die Austauschmöglichkeiten auch und gerade für die breite Bevölkerung bestünden. So entstanden Initiativen wie das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW), durch welches sich seit 1963 fast 10 Millionen Jugendliche beider Länder kennenlernen durften,oder auch Städtepartnerschaften, von denen es alleine 228 in NRW gibt. Auch auf akademischer Ebene besteht reger Austausch, seit 1997 beweise dies die Deutsch-Französische Hochschule mit ihrem breiten Angebot an binationalen und in Teilen sogar trinationalen Studiengängen. Über 3.000 Studierende beider Nationen sind aktuell in Studienprogrammen wie den Europäischen Studien immatrikuliert. All dies habe nach Sûr vor allem eines zur Folge: “Heute kennen keine anderen zwei Nationen einander so gut, wie die Deutschen und Franzosen”.
Die deutsch-französische Freundschaft: keine Selbstverständlichkeit
Trotz allem Grund zur Freude mit Blick auf diese gemeinsame Erfolgsgeschichte warnt der Generalkonsul, dass wir mehr denn je die deutsch-französische Freundschaft bräuchten. Um diese aufrechtzuerhalten, seien neue Impulse mit alltäglichem Engagement unabdinglich.
Während die erste Generation deutsch-französischer Freundschaft – die Generation, die den Zweiten Weltkrieg selbst miterlebt hatte – aus reiner Vernunft zueinander fand, gestaltete die zweite Generation bereits voller Veränderungswillen die bilateralen Beziehungen mit. Heutzutage bestünde allerdings die Gefahr, dass die dritte Generation die Errungenschaften als gegeben hinnehmen könnte, warnt der Generalkonsul. Das erste alarmierende Indiz: es gebe immer weniger Deutschlernende an französischen Schulen und umgekehrt. Es sei also ein nachlassender Wille auf beiden Seiten festzustellen,die Sprache des jeweils anderen zu lernen. Die deutsch-französischen Beziehungen könnten bald nur noch von einer kleinen Elite gelebt werden und diese besondere Freundschaft ihren Stellenwert einbüßen. Das würde nichts anderes heißen, als mit anderen diplomatischen Beziehungen gleichgesetzt zu werden.
Wie fatal es enden kann, wenn man sich auf vergangene Errungenschaften verlasse, zeige der Angriffskrieg auf die Ukraine seit Februar 2022, so Dr. Etienne Sûr.
Zugleich könnten die aktuellen europäischen Herausforderungen aber auch eine Erinnerung an die gemeinsame Verantwortung beider Nationen sein. Schließlich waren sie es, die sich – um es mit de Gaulles Worten auszudrücken – nach dem Zweiten Weltkrieg einst “von beiden Seiten des Rheines erhoben, um sich zu versöhnen”.
Europas Zukunft in den Händen der deutsch-französischen Jugend
Dabei komme der dritten und aktuellen deutsch-französischen Generation eine besondere Rolle zu, so Sûr. “Die Zukunft liegt in Ihren Händen”, appelliert er an das Publikum aus jungen deutsch-französischen Studierenden. Europa stehe vor großen Herausforderungen, und es brauche ein aktives, zivilgesellschaftliches Engagement der deutsch-französischen Jugend, welches den deutsch-französischen Motor am Laufen halte. Die Agenda sei lang: Sicherheit in Europa, Energiewende, Klimawandel, Digitalisierung und Geschlechtergleichheit. Das alles seien Themen, auf die es eine europäische Antwort bräuchte und in denen Deutschland und Frankreich eine Vorreiterrolle einnehmen könnten. “Wenn wir uns darauf fokussieren, dann können wir die deutsch-französische Freundschaft wiederbeleben.”
Text & Fotos: Jule Barmwater
Redaktion: Rahel Schuchardt