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Europas (Grenz-)Regionen: Labore für den europäischen Integrationsprozess

Ein Rückblick auf die Europa-Vorlesung Alexander Homanns am 01.12.2021 an der Universität Paderborn

Europa braucht seine Regionen. Ihre Bedeutung wird oft unterschätzt oder durch Negativschlagzeilen über separatistische Entwicklungen überlagert. Dabei wird in den Regionen und dort insbesondere in den Grenzregionen, an den Nahtstellen Europas, wichtige Arbeit im Kleinen für den Europäischen Gedanken und den damit einhergehenden Integrationsprozess der EU geleistet. Grenzregionen sind die Laboratorien Europas. Was dort ausprobiert wird, zeigt oftmals den wirklichen Mehrwert Europas für die Bürgerinnen und Bürger im täglichen Leben. Das zeigt Alexander Homann, Leiter der Vertretung Ostbelgiens, der Föderation Wallonie-Brüssel und der Wallonie in Berlin, in seinem Vortrag im Rahmen der Europa-Vorlesungen am 01. Dezember vergangenen Jahres auf.

Alexander Homann, Leiter der Vertretung Ostbelgiens, der Föderation Wallonie-Brüssel und der Wallonie in Berlin, kennt sich mit den europäischen Regionen aus. Als Grenzgänger zwischen Sprachen und kulturellen Gemeinschaften sieht er Regionen als essentiell für Europa an: „Es geht ein enormer Schub von ihnen aus, wenn es darum geht, Integrationsprozesse voranzubringen“.

Zur Erklärung blickt er zuerst auf die Geschichte Europas zurück. Bei Europa handelt es sich, laut dem Belgier, um einen Kontinent, der im Verhältnis zu seiner trotz relativ kleinen Größe eine hohe Dichte an Staatsgrenzen aufweist. Diese wiederum sind die Folge von Ereignissen in der Geschichte: „Oft haben diese Grenzen und deren Ziehung Wunden in Europa hinterlassen, und sind so zur Herausforderung geworden.“ Zugleich spielten die Grenzen aber auch eine entscheidende Rolle, wenn sie sich öffneten: in diesen Momenten entstand Homann nach immer ein „Geschichtsmoment“.

Botschaftsrat Homann geht daraufhin noch einen Schritt weiter: Schaue man nämlich genauer auf die einzelnen Nationalstaaten, fällt die Vielfältigkeit der jeweiligen Regionen auf. Gleichwohl ist die Balance von Nationalinteressen und Regionalinteressen sehr unterschiedlich in jedem europäischen Land: Hier hat Belgien einen Sonderweg gewählt. Seit der sechsten Staatsreform im Jahr 2011, die eine schrittweise Ausweitung der Autonomie der Teilstaaten vorsah, wurden der Bundesebene Kompetenzen entzogen. Die Gewichtung der Regionen ist hier eine vollständig andere als beispielsweise im föderalen Deutschland: „Die Entscheidung der belgischen Bundesebene, sich bestimmte Zuständigkeiten wegnehmen zu lassen, ist ein Wink in Richtung Europa“, meint Homann. Mit dem Verlust von Souveränität für die Bundesebene bringt die Reform eine sowohl interessante als auch skurril erscheinende Neuerung mit sich: Die Teilstaaten Belgiens bekamen ab diesem Zeitpunkt nicht nur ihr eigenes diplomatisches Corps, sondern waren fortan auch unterschriftsberechtigt bei internationalen Verträgen. So kommt es zu dem Umstand, dass eine 77.000 große Einwohner-Gemeinschaft in Belgien mächtiger ist als die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, einem Bundesland, das rund 17 Millionen Einwohner zählt. Dieser belgische Sonderfall bringt neue Möglichkeiten mit sich, wie es die Verhandlungen um das Freihandelsabkommen CETA zwischen Kanada und der EU von 2016 zeigten: Damals machte die Wallonie Schlagzeilen, da Parlament und Regierung auf regionaler Ebene den Vertragstext in seiner damaligen Form nicht verabschieden und ratifizieren wollten. Solange dies nicht geschah, hatte Belgien kein Recht, den Vertrag zu unterzeichnen.

Dieses Recht auf Selbstbestimmung birgt nach Homann noch einen anderen Aspekt: „Die Regionen sind viel näher an den Bürgern als Nationalstaaten. Aus der Regionalität wird wie selbstverständlich auch eine Identität bei den europäischen Bürgern.“ So könnte Europa im täglichen Leben der Bürger:innen präsent werden.

Um aufzuzeigen, inwiefern Regionen als Labore für ebendiesen Integrationsprozess dienen können, nennt Homann drei Faktoren: Erstens muss die Erlaubnis zur Zusammenarbeit gegeben sein, zweitens der Wille, und drittens das Werkzeug, um diese konkret umsetzen zu können.
An zwei Beispielen illustriert er die praktische Umsetzung dieser Idee. Während der Corona-Krise leistete die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die vor allem durch die Arbeit der Organisation Euregio Maas-Rhein ermöglicht wurde, wichtige Dienste: „Corona-Patienten konnten so völlig unbürokratisch von Belgien ins Aachener Universitätsklinikum verlegt werden“, erklärt der Leiter des Belgienzentrums. Eine weitere Errungenschaft ist ein deutsch-belgisches Metzger-Doppeldiplom, das angehende Metzger:innen fortan in der Grenzregion um Aachen ablegen können. Dies löste nicht nur das Problem der fehlenden Ausbildungsplätze in der Region, sondern ermöglichte jungen Azubis auch den Zugang zu zwei Arbeitsmärkten.
Der Experte für grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist überzeugt: Für ihn gibt es keine wünschenswerte Alternative zu einem fortschreitenden europäischen Integrationsprozess.

 

Über Alexander Homann:
Alexander Homann ist seit 2017 Leiter der Vertretung Ostbelgiens, der Föderation Wallonie-Brüssel und der Wallonie in Berlin. Seine Karriere begann er im Journalismus, wo er unter anderem auch für die ARD oder den saarländischen Rundfunk in arbeitete. Nach einiger Zeit bei dem belgischen Fernsehsender WRF wechselte er in die Politik und übernahm 2017 die Leitung des Belgienzentrums in Berlin. Homann, fließend in drei Sprachen, ist Experte für grenzüberschreitende Zusammenarbeit.

Text: Rahel Schuchardt

Redaktion: Louisa Schmeiduch