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Europa vor Ort: Das britische Leben in Paderborn vor und nach dem Brexit

Wie stark ist Paderborn eigentlich von Europa geprägt? Diese Frage bildet auch dieses Jahr den Ausgangspunkt des Seminars „Europa vor Ort“. Eine einfache Antwort auf diese Frage findet man aufgrund der Vielschichtigkeit der Europäischen Union kaum. Deswegen versuchen wir durch eine tiefere Betrachtung vier verschiedener Bereiche Teilantworten auf diese Frage zu finden: die Untersuchung des Einflusses des Brexits auf das britische Leben in Paderborn, ein grenzüberschreitender Ausflug mit der Eurobahn, ein Interview zur Ausübung des EU-Bürgerrechts und ein fiktives Szenario zu einem Asylbewerber in Büren zeigen euch, wie und wo die EU in Paderborn und Umgebung sichtbar ist.

 

2016 brannte sich ein ins europäische Gedächtnis als Jahr, in dem sich zum ersten Mal ein Mitgliedsland per Referendum dazu entschied, aus der EU auszutreten. Für viele war dies ein Schock… Dass diese Entscheidung nicht ohne Konsequenzen erfolgen würde, liegt auf der Hand, denn die EU ist heutzutage in jeden Lebensbereich verwickelt. Doch nicht nur für Briten in Großbritannien brachte der Brexit einige Veränderungen mit sich, sondern auch für Briten außerhalb von Großbritannien. Für uns als Studierende der Universität Paderborn interessieren wir uns für das Leben der Briten in Paderborn. Wie haben sie den Brexit empfunden? Was hat sich für sie verändert? Dafür haben wir ein paar Interviews geführt und möchten euch gerne auf die Reise mitnehmen.

Zuerst stellt sich die Frage: Warum gibt es so viele Briten in Paderborn? Um diese Frage beantworten zu können, werfen wir einen kurzen Blick zurück in die Vergangenheit, um genauer zu sein, in die Nachkriegszeit. 1945 begann die britische Besatzungspolitik in Westfalen und damit die Geschichte der britisch-deutschen Beziehung in Westfalen/Paderborn. Später wurden dann Truppen des britischen Militärs dort stationiert. Mit der Zeit kamen sich die Briten und die Paderborner immer näher und die Beziehung wurde gestärkt. Doch hatte der Brexit Auswirkungen auf diese Beziehungen und das Leben der Briten, die in Paderborn sesshaft geworden sind? Dieser Frage wollen wir mit unserem Beitrag auf den Grund gehen.

Paderborner Student mit deutsch-britischen Wurzeln

Was bedeutet es aber für einen waschechten Briten, in Paderborn zu leben? Wie sieht das britische Leben in der Domstadt aus? Kieran W., 25 Jahre alt, Lehramtsstudent für Englisch und Ernährungslehre. Er ist als Kind einer deutschen Frau und eines englischen Soldaten in Paderborn geboren worden, dort zweisprachig aufgewachsen und lebt seither in Paderborn. Seine Eltern lernten sich kennen, als sein Vater in Paderborn in der britischen Army stationiert war. Bis Kieran neun Jahre alt war, lebte die Familie in der „Engländersiedlung“ Paderborns zusammen mit den anderen Soldaten und ihren Familien. Dort hatte er hauptsächlich englische Kontakte, besuchte britische Läden, ging jedoch seine gesamte Schulzeit über auf deutsche Schulen. Die Familie entschied sich, von dort wegzuziehen, da die Unterbringungen in dieser Siedlung irgendwann für die dreiköpfige Familie zu klein wurde. Vor 15 Jahren musste Kierans Vater aus der Army austreten, da er mit 38 Jahren zu alt für seine damalige Rolle war. Da er Frau und Kind in Deutschland hatte, entschied er sich dafür, nicht nach Großbritannien zurückzukehren, sondern mittels einer armeefinanzierten Umschulung danach als LKW-Fahrer bei einer Paderborner Firma zu arbeiten (kleiner Funfact: Kierans Vater führte diese Umschulung in Paderborns Partnerstadt Bolton durch).

Nun kam 2016 aber der „krasse[] Schock“ des Brexits. Kieran erinnert sich noch, „als das Referendum […] eingeleitet wurde. […] Von uns hat das keiner ernst genommen, dass es dann wirklich so sein könnte, […] dass die Mehrheit für ‚Ja‘ stimmt.“ Sein Vater, der aufgrund von administrativen Schwierigkeiten selbst nicht einmal im entscheidenden Referendum abstimmen konnte, durfte nicht so ohne Weiteres in Deutschland weiterarbeiten, sondern musste eine Arbeitsgenehmigung beantragen. Kieran selbst wusste sofort, dass er einen britischen Pass bräuchte, um weiterhin problemlos seine Verwandten im Südosten Englands besuchen zu können. Deshalb beantragte er ihn, direkt nachdem der Brexit bekannt wurde, einfach online und bekam ihn nach Paderborn zugeschickt. Von englischer Seite bekam er mit, dass seine Familie wohl Brexit-Befürworter war. Zu den Beweggründen kann er sich vorstellen, dass „diese Angst vor Migration da wirklich überwiegt, in d[]er Argumentation, warum Brexit […] sinnvoll war. Und weil man ja [als Großbritannien] unabhängig sein will, sein eigenes Ding machen will”. Er berichtet zudem, wie es sowohl im englischen Heimatort seiner Familie als auch in der Paderborner Soldatensiedlung zu Lieferengpässen kam, besonders was Frischwaren wie Obst und Gemüse anging. In Großbritannien habe er gehört, es liege wohl am Mangel an LKW-Fahrern aus Osteuropa, die dort nun nicht mehr arbeiten können oder wollen. In seinem Alltag in Deutschland spürte Kieran weder die Auswirkungen des Brexits noch erfuhr er negative Reaktionen ihm gegenüber; er bekam eher interessierte Nachfragen. Zu seiner Beziehung zur EU äußert sich Kieran positiv gestimmt. Er sehe schlichtweg mehr Vorteile, besonders in Bezug auf die Abwesenheit harter Grenzen, und wolle die EU nicht mehr missen. Per se als Europäer würde er sich jedoch nicht identifizieren. Im Herzen ist er Deutsch-Brite. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass er die EU als Institution als sehr fern wahrnimmt, und es schwierig findet, einen emotionalen Bezug zu ihr herzustellen. Er bedauert es allerdings, dass es in einem seiner Heimatländer einen solchen Rückschritt ins Nationaldenken gebe, denn das ließe „einen schlechten Beigeschmack“.

Britische Soldaten auch weiterhin in Paderborn

Trotz Brexit gibt es weiterhin einige Briten, die ihr Leben in Paderborn weiterführen. Darunter auch britische Soldaten, die in Sennelager in Paderborn arbeiten und leben. Daher hat uns ebenfalls interessiert, wie die Army und die im Kreis Paderborn lebenden Soldaten und Soldatinnen ihr Leben in der 150.000 Einwohner starken Stadt wahrnehmen und inwiefern sie Auswirkungen des Brexits verorten können. Deshalb haben wir uns mit einem Verbindungsoffizier in Kontakt gesetzt. Dieser erzählte: „Obwohl es einige Änderungen gegeben hat, haben wir im Großen und Ganzen die Konsequenzen [des Brexits für die in Deutschland stationierten britischen Streitkräfte] nicht so sehr bemerkt. Das liegt daran, dass die Befugnis, hier in Deutschland stationiert zu sein, dem NATO-Status of Forces Agreement (NATO-Truppenstatut) und dem Supplementary Agreement (Zusatzabkommen) obliegt.“ Dabei sei der Artikel 6 des Zusatzabkommens von besonderer Bedeutung, da dort die Ausnahmegenehmigung, die besagt, dass die britischen Streitkräfte in Deutschland von der Meldepflicht befreit sind, verankert ist. Darüber hinaus seien bei der Army zusätzlich Briten und Deutsche als Zivilisten (directly employed labour) in einer Vielzahl von Rollen innerhalb der Garnison beschäftigt. Diese sind jedoch von keinen Sonderregelungen betroffen und leben dementsprechend nach den gleichen Vorschriften wie auch andere deutsche oder britische Staatsbürger in Paderborn.

Ein Blick aus dem Rathaus

Welche Auswirkungen hatte jedoch der Brexit auf Städtepartnerschaften oder allgemein auf Briten, die in Paderborn leben? Um diese Fragen zu beantworten, sind wir mit Herrn Niklas Voß aus dem Bürgermeisterreferat der Stadt Paderborn in Kontakt getreten. Er berichtet, dass das Verhältnis zwischen Paderborn und der Partnerstadt Bolton weiterhin eng sei und dass, der Brexit dieses nicht verändert habe. So werden die Besuche der Bürgermeister anlässlich des Libori oder des Bolton Food and Drink Festival weiterhin in gewohnter Weise durchgeführt.

In dieser Hinsicht hat sich also ebenfalls durch den Brexit wenig verändert. Für BürgerInnen, die sich engagieren wollen, sind jedoch EU-Fördergelder weggefallen, was direkte Auswirkungen auf ihre Arbeit hat: „So hat z.B. die Gesamtschule Elsen seit vielen Jahren ein Besuchsprogramm, verbunden mit einem Auslandspraktikum in britischen Betrieben. Durch den Austritt aus der EU ist jedoch die Erasmus-Förderung entfallen, weshalb die Finanzierung auf andere Weise gesichert werden muss – im Zweifel durch höhere Kosten für die Teilnehmenden, was die Attraktivität des Austausches schmälert und den Kreis der Teilnehmenden ggf. einschränkt“, erklärt Voß. Ein weiteres Beispiel für eine brexitbedingte Änderung ist der akademische Austausch zwischen der Universität in Paderborn und in Manchester. Seit dem Brexit erfolgt er rein bilateral, da das Erasmus-Programm nicht mehr zur Verfügung steht. Bilaterale Verträge erschweren aber den Austausch für Studierende und Forschende, da diese einen erhöhten bürokratischen Aufwand mit sich bringen.

Auch auf Verwaltungsebene, insbesondere „im Bereich der Regelung des Aufenthalts und der Einbürgerung“ folgten Veränderungen, erklärt der Mitarbeiter des Bürgermeisterreferats. So haben britische Staatsangehörige „vor dem Brexit […] Freizügigkeit nach den entsprechenden Regelungen für europäische Staatsangehörige genossen. Damit ging eine problemlose Wohnsitznahme in Deutschland, die Reisefreiheit und auch eine unbeschränkte Aufnahme von […] Beschäftigungen einher.” Im Austrittsabkommen des Vereinigten Königreichs wurde darüber hinaus der Erhalt der Rechtsstellung des Freizügigkeitsgesetzes festgelegt. Betroffene Personen benötigen nun allerdings eine Aufenthaltsanzeige, um ein Dokument zum Nachweis der Rechtsstellung zu erhalten. Für neu einreisende britische Staatsangehörige gelten nach dem Brexit andere Regelungen. Zur Einreise ist inzwischen verpflichtend der Reisepass erforderlich, und die Regelung des Aufenthalts erfolgt nach den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes. Im Gegensatz zum Freizügigkeitsgesetz legt das Aufenthaltsgesetz einen höheren Maßstab an die Gründe für den Aufenthalt und die zu erfüllenden Anforderungen an. Auch die Einbürgerung gestaltet sich seither etwas anders. Während EU-BürgerInnen im Regelfall beim Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit die Staatsangehörigkeit ihres Heimatlandes behalten dürfen, ist dies nach dem Brexit nicht mehr möglich. Die Einbürgerung erfordert nunmehr die Aufgabe der bisherigen (britischen) Staatsangehörigkeit, wobei Ausnahmen nur in wenigen Fällen möglich sind.

Infos zum Brexit
Der Brexit, der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, wurde durch ein knappes Referendum am 23. Juni 2016 beschlossen, bei dem 51,9 Prozent der WählerInnen für den Austritt stimmten. Offiziell begann der Austrittsprozess am 29. März 2017, als die britische Regierung gemäß Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union ihre Austrittsabsicht mitteilte. Dieser Schritt markierte den Beginn einer Phase tiefgreifender politischer, rechtlicher und sozioökonomischer Unsicherheiten, die sowohl das Vereinigte Königreich als auch die EU betreffen. Die Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich gestalteten sich von Anfang an schwierig und waren von harten Fronten geprägt. Streitfragen wie die finanzielle Entflechtung, die Rechte der EU-BürgerInnen im Vereinigten Königreich und die innerirische Grenzfrage führten zu wiederholten Stockungen in den Gesprächen. Erst im November 2018 kam es zu einer Einigung, die jedoch nur eine gemeinsame Freihandelszone und eine enge außen- und sicherheitspolitische Partnerschaft vorsah, wodurch das Vereinigte Königreich nach dem Austritt nicht mehr dieselben Vorteile wie ein EU-Mitglied genießen würde. Ein Last Minute-Deal für die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich konnte schließlich am 24. Dezember 2020 erreicht werden. Dieses Abkommen umfasste neben einem Handelsabkommen auch ein Kooperationsabkommen für soziale und umweltzentrierte Fragen sowie strittige Themen wie Fischereirechte und Strafverfolgung. Trotz Kritik aus London, dass das Handelsabkommen mehr der EU als dem Vereinigten Königreich diene, wurde es als bessere Alternative zu einem No Deal betrachtet und vom britischen Unterhaus verabschiedet. Trotz eines geordneten Austritts führte der Brexit zu erheblichen Problemen, darunter Staus und Lieferengpässe bei Lebensmitteln aufgrund von Grenzkontrollen und Personalmangel. Das Brexit-Drama scheint daher nur ein vorläufiges Ende gefunden zu haben, da weiterhin ungelöste Streitpunkte bestehen.

 

Von Miriam Amalo, Dorothea Hepp, Julia Noll, Ajla Bucan & Esma Sokolovic