Wie stark ist Paderborn eigentlich von Europa geprägt? Diese Frage bildet auch dieses Jahr den Ausgangspunkt des Seminars „Europa vor Ort“. Eine einfache Antwort auf diese Frage findet man aufgrund der Vielschichtigkeit der Europäischen Union kaum. Deswegen versuchen wir durch eine tiefere Betrachtung vier verschiedener Bereiche Teilantworten auf diese Frage zu finden: die Untersuchung des Einflusses des Brexits auf das britische Leben in Paderborn, ein grenzüberschreitender Ausflug mit der Eurobahn, ein Interview zur Ausübung des EU-Bürgerrechts und ein fiktives Szenario zu einem Asylbewerber in Büren zeigen euch, wie und wo die EU in Paderborn und Umgebung sichtbar ist.
Amélie Charvet ist ein anschauliches Beispiel für die gelebte europäische Integration. Ursprünglich aus Frankreich stammend, lebt sie seit 2010 in Deutschland und ist seit 2014 als Lektorin für Französisch an der Universität Paderborn tätig. In den vergangenen vierzehn Jahren hat Amélie nicht nur die deutsche Kultur kennengelernt, sondern auch die Europäische Union hautnah erlebt. Ihre Erfahrungen und Perspektiven machen sie zu einer wertvollen Gesprächspartnerin, insbesondere wenn es um das EU-Bürgerrecht inklusive Kommunalwahlrecht und dessen Rolle bei der Stärkung des europäischen Gemeinschaftssinns geht. In unserem Interview teilt Amélie ihre Einsichten darüber, wie das Wahlrecht für EU-Bürger die europäische Identität fördert und welchen Einfluss dies auf das Gefühl der Zugehörigkeit innerhalb der Europäischen Union hat.
– Vielen Dank, dass Sie uns Ihre Zeit für ein Interview schenken. Mögen Sie sich uns einmal vorstellen?
Ich heiße Amélie Charvet. Ich komme ursprünglich aus Frankreich. Ich wohne seit 2010 in Deutschland, also sind es jetzt schon vierzehn Jahre, und ich arbeite an der Uni Paderborn seit 2014 als Lektorin für Französisch.
– Wussten Sie vom Wahlrecht für EU-Bürger, als Sie nach Deutschland kamen?
Nein, ich wusste nicht davon, aber ich muss gestehen, ich war sehr jung, als ich nach Deutschland gekommen bin.
– Haben Sie schon in Deutschland gewählt?
Ich habe schon ein paar Mal in Deutschland gewählt. Und ich glaube, es ist jetzt vielleicht wichtig zu erwähnen, dass ich seit einem halben Jahre beide Staatsangehörigkeiten habe, das heißt, ich darf jetzt auch ganz offiziell als Französin in Frankreich wählen, aber auch in Deutschland als Deutsche wählen. Aber ich habe trotzdem vorher in Deutschland gewählt, auch bei der Kommunalwahl.
– Empfinden Sie das Wahlrecht für EU-Bürger als positiv oder negativ?
Ich glaube, es kommt ein bisschen auf die Situation an. Ist man nur für ein paar Monate in Deutschland als Auslandsstudent, oder hat man die Absicht, ein bisschen länger zu bleiben. Bei letzterem finde ich das extrem positiv und auch wichtig, dass man wählen darf. Aber wenn man nicht die Absicht hat, länger zu bleiben, dann weiß ich nicht, ob es nicht irgendwie ein bisschen schwierig ist, sich politisch zu beteiligen, wenn man den ganzen Hintergrund nicht kennt.
– Ein konkretes Beispiel, welches unsere Region betrifft, war im ersten Halbjahr der Bürgerentscheid über den Nationalpark Egge.
Ich habe aufgrund eines Briefs mitbekommen, dass es in Paderborn eine Abstimmung wegen des Egge-Nationalparkes gibt. Ich habe von Studierenden gehört, die jetzt Paderborn verlassen und trotzdem gewählt haben, obwohl sie es dann langfristig nicht betrifft, und habe ich mich gefragt, inwieweit das relevant ist, dass Leute, die dann quasi gehen, wählen dürfen. Also ich finde es gut, wenn Leute eine Meinung haben und diese Meinung äußern, aber inwieweit das jetzt relevant ist für Auslandsstudierende, weiß ich nicht. Laut Gesetz muss man mindestens drei Monate hier sein, um an Kommunalwahlen teilnehmen zu dürfen.
– Stimmen Ihre Interessen und parteipolitischen Präferenzen in Deutschland und Frankreich überein oder wählen Sie hier andere Parteien als in Frankreich?
Also, meine persönlichen Interessen bleiben dieselben, egal in welchem Land ich mich befinde. Natürlich stimmen die Agenden der Parteien nicht zu hundert Prozent überein, es kommt aber auch immer auf die Kandidatinnen und Kandidaten an.
– Was denken Sie, wie viele EU-Bürgerinnen und Bürger hier an Wahlen teilnehmen, also von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen?
Viel zu wenig. Ja, leider viel zu wenig. Ich habe jetzt keine Zahl. Wir hatten ja im Juni die Europawahl und für mich als Französin ist es tatsächlich so, dass ich zum nächsten Konsulat muss. Das heißt, ich musste nach Frankfurt. Für mich ist das ein 200 Kilometer weiter Weg, also 200 Kilometer hin und zurück, um wählen zu dürfen. Und ich glaube, das ist einfach die größte Hürde, die es für Ausländer gibt. Und ich weiß, dass in Frankfurt nur zwölf Prozent gewählt haben. Also von den Franzosen, die in Frankfurt wählen dürfen. Ich weiß aber auch, dass die Wahlbeteiligung in Frankreich sehr niedrig war. Ich glaube um die fünfzig Prozent, egal welches Alter. Und das waren die Franzosen in Frankreich. Das heißt, sie laufen 15 Minuten zur nächsten Schule und dürfen dort auch ganz entspannt wählen. Eine Sache, die in Frankreich meiner Meinung nach fehlt, ist die Briefwahl. Das gibt es nicht. Ich glaube, sie sollte auch eingeführt werden, damit mehr Leute wählen.
– Warum denken Sie, wurde das Wahlrecht für EU-Bürger eingeführt?
Naja, das EU-Bürgerrecht wurde irgendwann eingeführt. Ich finde es daher auch nur logisch, dass man sich an europäischen Fragen beteiligen kann und dass man auf der europäischen Ebene auch ein Mitspracherecht hat. Weil es eben Entscheidungen gibt, die nicht nur Frankreich oder nicht nur Deutschland betreffen, sondern alle europäischen Länder.
– Theoretisch ist es sogar möglich, dass sie Bürgermeistern in Paderborn werden. Kommt das für Sie in Frage?
Nein (lacht). Aber in Frankreich auch nicht. Ich glaube, dafür spielt die Staatsangehörigkeit nicht die wichtigste Rolle. Sondern, ob man sich in der Lage fühlt, diese Rolle zu vertreten. Also kann man sich vorstellen, sich überhaupt politisch so stark zu engagieren. Egal in welcher Sprache.
– Stärkt das EU-Wahlrecht einen europäischen Gemeinschaftssinn?
Ich finde, dass es auf jeden Fall eine sehr gute Entwicklung ist. Es gibt viele Menschen, die im Ausland für mehrere Jahre leben. Und es werden in der Zukunft immer mehr sein. Deswegen finde ich es umso wichtiger, dass das eingeführt wurde. Ich finde schon, dass es auch dazu beiträgt, dass ich mich mehr aufgenommen und integriert fühle.
– Glauben Sie, dass es wichtig ist, sich für die lokale Politik zu interessieren, wenn man aus einem anderen Ort kommt?
Also, es kommt darauf an, wie lange man bleibt. Ja, wenn es nur ein paar Monate ist, kann man das gerne machen, schadet sowieso nicht. Und wenn man beabsichtigt, ein bisschen länger zu bleiben, dann sollte man das auf jeden Fall tun.
– Finden Sie, das Kommunalwahlrecht sollte erhalten bleiben?
Ich finde jede Wahl wichtig. Tatsächlich ist es bei der Europawahl so, dass man sich für ein Land entscheiden muss. Also, ich dürfte jetzt nicht für Frankreich und für Deutschland wählen. Das heißt, da muss man schon eine Entscheidung treffen. Ansonsten kann man die Frage andersrum formulieren. Wieso sollte mich die Bundeskanzlerwahl nicht interessieren, wenn ich schon seit vielen Jahren in Deutschland lebe ? Aber warum sollte mich die Präsidentenwahl in Frankreich interessieren, wenn ich nicht mehr in Frankreich lebe? Warum sollte ich in Frankreich, obwohl ich schon vielleicht 40 Jahre nicht mehr da wohne, trotzdem wählen dürfen, nur weil ich den Ausweis habe? Und nicht andersrum? Warum ich denn nicht in dem Land, in dem ich wohne. Vielleicht bin ich verheiratet, habe Kinder, habe einen Job. Inwiefern betrifft mich das weniger, als was in Frankreich passiert? Naja, ich finde jede Wahl ist wichtig. Egal auf welcher Ebene.
– Finden Sie, Sie werden genug über die Wahlen informiert und die Parteien in Deutschland informiert?
Ich finde, wenn man das möchte, dann hat man auf jeden Fall genug Informationen, vor allem jetzt mit sozialen Netzwerken und so weiter. Man hat da deutlich einfacheren Zugang zu allen Informationen, die man haben möchte. Aber ich finde, also zum Beispiel das erste Mal, als ich wählen durfte, das war glaube ich 2007 für die Präsidentenwahl in Frankreich. Auf jeden Fall war für mich die einzige Quelle der Fernseher. Das Internet gab es damals schon, aber es gab halt myspace und Facebook und das wars. Und damals hat man das ja auch anders genutzt. Deswegen gab es nicht so viele Kanäle, wo man sich informieren konnte. Mittlerweile finde ich das auch ein bisschen zu viel. Wenn man abschalten möchte, geht das nicht so gut, weil man einfach überflutet wird mit Informationen. Ich finde schon, dass man genug Information bekommt, wenn man auch aktiv danach sucht. Etwas, was ein bisschen weniger geworden ist, sind diese Stände in der Innenstadt und die Leute, die einen ansprechen. Ich kann mich daran erinnern, vor zwei Jahren haben auf jeden Fall Leute mit Flyern bei mir geklingelt.
– Was denken Sie, welche Vorteile hat es, an den Kommunalwahlen in einem Land teilnehmen zu können, das nicht das eigene Land ist?
Ja, also bei den Kommunalwahlen, wenn man quasi die Absicht hat, ein bisschen länger zu bleiben, finde ich solche Entscheidungen, was das Schul-, das Gesundheits- und Rentensystem angeht, extrem relevant. Das hat direkten Einfluss, man hat quasi den Eindruck, dazu beizutragen. Und auch das Gefühl, integriert zu sein.
Von: Baptistine Guban, Jana Ovsejenko, Kristina Kosov, Ïanis Tebbi